Viele von uns gehen viele Jahre zur Therapie und merken trotzdem keine gravierenden Unterschiede in ihrer mentalen Gesundheit- mich inklusive. Das liegt daran, dass die klassischen Gesprächstherapien nur an der Oberfläche kratzen und uns im schlimmsten Fall sogar retraumatisieren.
Wir reden immer wieder über die gleichen Probleme, eventuell gehen wir noch tiefer, erkennen die Zusammenhänge noch besser und gelegentlich erleben wir einen “Durchbruch”. Das Problem daran ist allerdings, dass wir unsere Probleme und Gefühle intellektualisieren, anstatt sie zu fühlen.
Genau aus diesem Grund, bleiben wir eigentlich “stecken”. Denn eines der wichtigsten Elemente, die wir für die Heilung* unserer mentalen Gesunheit benötigen, ist unser Nervensystem.
Was ist die Aufgabe unseres Nervensystems?
Unser Nervensystem ist wie das Betriebssystem unseres Körpers. Es steuert jede unbewusste Funktion: Atmung, Herzschlag, Verdauung, Hormonausschüttung. Aber noch viel wichtiger: es entscheidet in Millisekunden, ob wir in Sicherheit sind oder ob Gefahr droht.
Das autonome Nervensystem besteht aus zwei Hauptästen:
- Sympathikus – der Gaspedal- er bringt uns in Kampf- oder Fluchtbereitschaft. Herzschlag steigt, Muskeln spannen sich an, wir sind fokussiert auf Gefahr.
- Parasympathikus – die Bremse- er beruhigt uns, unterstützt Verdauung, Heilung und Regeneration.
Die Polyvagal-Theorie von Stephen Porges zeigt allerdings, dass unser Nervensystem nicht nur zwischen zwei Zustände unterscheidet, sondern drei:
- Soziale Verbundenheit (ventraler Vagus)– unser „grünes Licht“ (Sicherheit, Nähe, Offenheit). In diesem Modus können wir lachen, uns mit anderen austauschen, Nähe zulassen und uns geerdet fühlen. Ein Beispiel: Wir sitzen mit Freunden zusammen, genießen den Abend, fühlen uns verstanden und entspannt. Unser Herzschlag ist ruhig, die Atmung tief, wir sind präsent.
- Kampf oder Flucht (Sympathikus) – das „gelbe Licht“ (Alarm, Action, Stress). Wir merken, wie unser Herz schneller schlägt, die Muskeln sich anspannen und wir plötzlich hellwach sind. Wenn wir im Stau stehen und zu spät dran sind oder in einen Streit geraten, spüren wir genau diese Aktivierung. Der Körper bereitet uns darauf vor, entweder zu kämpfen oder zu fliehen.
- Erstarrung (dorsaler Vagus) – das „rote Licht“ (Abschalten, Taubheit, Dissoziation). Wenn allerdings weder Kampf noch Flucht möglich sind, folgt die Erstarrung. Unser System fährt herunter, um uns zu schützen. Wir kennen das zum Beispiel, wenn wir in einem Streit so überfordert sind, dass wir innerlich abschalten und gar nichts mehr fühlen. In diesem Zustand wirkt der Körper fast wie eingefroren: niedriger Puls, Taubheitsgefühle, Müdigkeit, Erschöpfung.
Unser Nervensystem pendelt normalerweise flexibel zwischen diesen Zuständen. Ein dysreguliertes Nervensystem aber bleibt in Stress gefangen oder schaltet in Erstarrung ab.
Was sind die Ursachen für ein dysreguliertes Nervensystem?
- Entwicklungstrauma: Bei Entwicklungstrauma geht es nicht um ein einzelnes, einschneidendes Ereignis, sondern um viele kleine Erfahrungen (adverse childhood experience), die sich über Jahre hinweg wiederholen. Oft wirken sie nach außen harmlos, fast unsichtbar. Vielleicht hatten wir Eltern, die sich um uns gekümmert haben, die den Kühlschrank gefüllt und unsere Schulsachen bezahlt haben und trotzdem fehlt etwas Entscheidendes- das Gefühl, wirklich gesehen, verstanden und so angenommen zu sein, wie wir sind.
- Akute Traumata: Unfälle, Übergriffe, Kriegserfahrungen.
- Generationen-Trauma: Muster, die wir von Eltern und Großeltern unbewusst übernommen haben.
- Chronischer Stress: Dauerhafte Arbeit unter Druck, Geldsorgen, ständige Erreichbarkeit.
- Ungesunde Gewohnheiten: Schlafmangel, zu viel Koffein/Zucker, Alkohol- oder Drogenmissbrauch, kaum Pausen, Überstimulation durch Handy, Social Media, Nachrichten.
- Umweltfaktoren: Reizüberflutung in Städten, fehlender Kontakt zu Natur, Isolation, toxische Beziehungen.
Symptome eines dysregulierten Nervensystems
Viele von uns merken zunächst gar nicht, dass ihr Nervensystem aus dem Gleichgewicht geraten ist. Das liegt daran, dass Dysregulation für uns schlicht zum „Normalzustand“ geworden ist.
Dass wir Schwierigkeiten haben, uns zu entspannen oder sicher zu fühlen, dass wir auf alltägliche Reize „überreagieren„, dass wir dauernd in Bewegung sein wollen oder wiederum niemals aus dem Haus gehen wollen und uns isolieren, deuten wir als Teil unserer Persönlichkeit.
Auf körperlicher Ebene spüren wir es oft in Form von chronischen Erschöpfung, Anspannung oder Verspannungen, Schlafstörungen, immer wiederkehrenden Kopfschmerzen oder Migräne, Verdauungsproblemen, Herzrasen, Schwindel oder hormonellen Dysbalancen. Unser Körper sendet also Warnsignale, die wir lange Zeit überhören oder bagatellisieren.
Auch mental macht sich ein dysreguliertes Nervensystem bemerkbar. Wir geraten ins ständige Grübeln, fühlen eine innere Unruhe, verlieren den Fokus, haben Schwierigkeiten, uns Dinge zu merken oder längere Zeit konzentriert zu bleiben und wir neigen zur Prokrastination.
Emotional zeigt sich Dysregulation durch Ängste, Panikattacken, depressive Verstimmungen, emotionale Instabilität mit abrupten Stimmungsschwankungen. Viele beschreiben auch ein tiefes Gefühl der inneren Leere, als wären sie vom eigenen Erleben abgeschnitten.
Und nicht zuletzt spiegelt sich all das in unseren Beziehungen wider. Wir entwickeln Angst vor Nähe, geraten in Co-Abhängigkeiten, versuchen es allen recht zu machen, um Konflikte zu vermeiden (people pleasing) oder wir ziehen uns so stark zurück, dass wir zwischenmenschliche Kontakte fast vollständig meiden (Isolation).
Peter Levine erklärt es perfekt:
Wenn wir in Gefahr sind, aber weder kämpfen noch fliehen können, „friert“ unser Körper die unvollendete Energie ein. Diese „unvollendete Energie“ bleibt im Körper “stecken” und zeigt sich Jahre später in genau den Symptomen, die so viele von uns heute kennen.
Wie wirken sich Stress und Trauma auf das Nervensystem aus?
Ein dysreguliertes Nervensystem ist eine häufige Folge von Trauma, insbesondere von Entwicklungstrauma. Es prägt, wie wir Stress wahrnehmen, ihn verarbeiten und wie wir darauf reagieren. Da wir uns so sehr daran gewöhnt haben, halten wir diesen Zustand für selbstverständlich und oft merken oft nicht einmal, dass dieser Zustand nicht unser eigentliches “Normal” ist.
Das Problem ist, dass die meisten von uns gar nicht realisieren, dass sie traumatisiert sind. Für mich war Trauma lange etwas, das ich mit Krieg in Verbindung gebracht habe. Ich habe in keinem Krieg gelebt, also hätte ich nie in Betracht gezogen, dass ich ebenfalls betroffen sein könnte.
Da Trauma heutzutage schon extrem mainstream geworden ist und davon ununterbrochen gesprochen wird, fühlt sich der Begriff fast schon irgendwie ausgelutscht an. Auch ich verdrehe manchmal die Augen, wenn ich ihn lese. Und doch steckt dahinter eine Wahrheit, die wir nicht ignorieren können. Denn viele Menschen wissen gar nicht, dass sie traumatisiert sind, weil ihre Vorstellung von Trauma nicht zu ihrer eigenen Geschichte passt.
Wie schön es Dr. Gabor Maté beschreibt:
“Trauma ist nicht das, was uns passiert ist, sondern unsere Reaktion auf das Ereignis.”
Trauma bedeutet nämlich nicht immer Gewalt oder Missbrauch. Es kann auch subtil entstehen. Durch ständige Vernachlässigung, fehlende Zuwendung oder das Gefühl, nie gut genug zu sein. Vielleicht wurdest du zu Hause geschlagen und hast davon kein Trauma entwickelt. Vielleicht wurdest du zu Hause aber „nur“ nicht beachtet und genau das hat tiefe Spuren hinterlassen. Besonders deutlich wird das bei Geschwistern: Sie wachsen im selben Haushalt auf und doch entwickeln sie sich völlig unterschiedlich. Die einen werden zu “Narzissten”, die anderen zu People Pleasern, die sich selbst völlig zurückstellen.
Am schwierigsten sind die Fälle, in denen wir überzeugt sind, eine „gute Kindheit“ gehabt zu haben. Kein offener Missbrauch, keine Gewalt und doch hat man das Gefühl: “So wie ich bin, bin ich nicht genug”. Entwicklungstrauma entsteht genau in diesen Momenten. Wenn wir das Gefühl hatten, Liebe nur dann zu verdienen, wenn wir brav oder erfolgreich waren. Wenn uns verboten wurde, laut zu sein, uns schmutzig zu machen, unserer Leidenschaft zu folgen oder unsere Gefühle zu zeigen. All diese scheinbar harmlosen Kleinigkeiten hinterlassen in uns die Botschaft:
„Ich darf nicht einfach ich selbst sein.“
Frag dich einmal ehrlich:
„Durfte ich zu 100 % ich selbst sein, als ich noch ein Kind war – mit all meinen „guten“ und „schlechten“ Seiten?“
Als Kinder sehen wir unsere Eltern und Bezugspersonen wie Götter. Wir sind abhängig von ihnen und können ihnen nicht widersprechen. Sie bestimmen die Regeln und wir müssen „gehorchen„. Manche von uns rebellieren stärker, andere fügen sich sofort. Aber am Ende werden die meisten „gebrochen„.
Um diesen anhaltenden Schmerz überhaupt aushalten zu können, greift unser Nervensystem zu seiner wirksamsten Notlösung- es schaltet ab. Dissoziation bedeutet, dass wir den Schmerz nicht mehr spüren, aber mit ihm auch uns selbst verlieren. So geraten wir in einen Überlebensmodus, in dem wir zwar funktionieren, aber nicht wirklich leben.
Wie Bessel van der Kolk in seiner Arbeit beschreibt:
..hält Trauma unser Nervensystem oft in einem Zustand gefangen, als wäre die Gefahr immer noch präsent.
Manche von uns erleben das als Hypervigilanz – ständige Alarmbereitschaft, chronischen Stress, Schlaflosigkeit und innere Unruhe.
Chaos und Stress ist das, was wir lieben. Ruhe fühlt sich für uns bedrohlich an.
Andere spüren das Gegenteil– eine emotionale Taubheit, die sich wie Depression anfühlt, das Leben wird farblos, leer und schwer.
Wieder andere kennen vor allem Angstzustände, wo selbst harmlose Situationen Panik auslösen, weil das Nervensystem jede Kleinigkeit als Bedrohung interpretiert. Und viele von uns pendeln zwischen diesen Extremen – von der völligen Übererregung, in die totale Erschöpfung; von Ruhelosigkeit in Lähmung. Unser Körper verliert die Fähigkeit, zur Balance zurückzufinden und so bleibt das Nervensystem im Überlebensmodus gefangen.
Viele Menschen verbringen ihr ganzes Leben in diesem Zustand. Sie flüchten sich in Arbeit, Leistung, Alkohol oder in eine gefühllose Fassade und nennen es dann einfach „normal“. Andere wiederum werden durch den Körper selbst gestoppt: Burnout, Depressionen oder körperliche Krankheiten zwingen sie, endlich hinzuschauen.
Besonders heute erleben wir einen großen Umbruch. Was früher als „Schwäche“ galt, zeigt sich in Wahrheit als Stärke:
Unsere Generation ist bereit, jahrzehntelange Muster von Familien- und Generationstrauma zu durchbrechen.
Doch dafür reicht es nicht, nur im Kopf über unsere Vergangenheit zu sprechen. Wir müssen mit unserem Nervensystem arbeiten. Denn alle diese Erfahrungen sind in unserem Körper gespeichert. Manche stammen noch aus der Gebärmutter, andere wurden von unseren Eltern oder Großeltern unbewusst weitergegeben.
All diese Erinnerungen leben in unserem Körper weiter, selbst wenn unser Kopf sie längst vergessen hat.
Weil es zu sehr wehgetan hat, hat unser Körper uns getrennt – er hat die Gefühle weggeschoben, um uns zu schützen.
Aber genau deshalb fühlen sich viele Emotionen heute so bedrohlich an. Wir laufen vor ihnen weg, statt sie zu spüren.
Um aber unsere Psyche “heilen” zu können, müssen wir uns wieder mit unserem Körper verbinden. Unser Körper wollte uns nicht bestrafen, er hat alles nur getan, nur um uns zu beschützen, das war seine natürliche Reaktion, eine Schutzstrategie. Jetzt dürfen wir ihm helfen, die alten Schutzstrategien loszulassen und wieder ins Leben zurückzufinden.
Fazit
Ein dysreguliertes Nervensystem ist kein Zeichen von Schwäche oder Versagen. Es ist die Antwort unseres Körpers auf Erfahrungen, die wir nicht besser steuern konnten. Es ist ein Schutzmechanismus, der uns am Leben erhalten hat. Rückschläge und Überreaktionen sind kein Scheitern, sondern Signale, dass das System noch lernt, wie Sicherheit und Balance möglich sind. Indem wir verstehen, wie unser Nervensystem funktioniert, können wir Mitgefühl für uns selbst entwickeln, unsere Imperfektion akzeptieren und den ersten Schritt Richtung Heilung machen. Wir müssen nicht perfekt sein, wir sind Menschen, keine Maschinen.
Hier erfährst du, wie du Schritt für Schritt aus der Dysregulation herauskommen kannst, welche Tools und Strategien wirklich helfen und welche persönlichen Erfahrungen ich auf der Reise zurück in die Regulation gemacht habe.
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FAQ: Dysreguliertes Nervensystem
Was bedeutet ein dysreguliertes Nervensystem?
Ein dysreguliertes Nervensystem bedeutet, dass unser Körper dauerhaft im Stress- oder Erstarrungsmodus feststeckt. Wir reagieren übermäßig stark oder gar nicht mehr auf Belastungen. Dinge, die eigentlich harmlos sind, fühlen sich bedrohlich an – oder wir spüren fast nichts mehr.
Was tun gegen ein dysreguliertes Nervensystem?
Der wichtigste Schritt ist, Sicherheit im Alltag zu schaffen – genug Schlaf, regelmäßige Mahlzeiten, Sonnenlicht und Pausen. Neben den Grundlagen wie Schlaf, Ernährung und Routinen ist vor allem die Arbeit mit dem Körper entscheidend. Methoden wie Traumaheilung, Somatic Experiencing (Peter Levine), TRE (Trauma Releasing Exercises) oder Polyvagal-Übungen helfen, eingefrorene Energie Schritt für Schritt zu lösen.
Wie entsteht ein dysreguliertes Nervensystem?
Meist durch anhaltenden Stress oder Trauma – besonders Entwicklungstrauma in der Kindheit. Aber auch Überforderung im Alltag, toxische Beziehungen, Schlafmangel oder schlechte Ernährung können das Nervensystem aus dem Gleichgewicht bringen.
Wie lässt sich das Nervensystem am schnellsten regulieren?
Es gibt keinen „Schnellschalter“. Aber Vagusnerv Übungen, Zeit in der Natur oder Quality Time mit Tieren und Menschen helfen in der Regel kurzzeitig. Für langfristige Heilung braucht es Geduld und innere Arbeit.
Was beruhigt das Nervensystem sofort?
Langsames Ausatmen, Summen, eine liebevolle Umarmung, barfuß auf der Erde stehen oder kaltes Wasser sind einfache Tools, die sofort helfen können.
Wie lange dauert es, bis sich das Nervensystem reguliert?
Das ist bei jedem Menschen sehr individuell. Manche spüren nach wenigen Wochen erste Veränderungen, andere brauchen Monate oder Jahre. Entscheidend ist, dranzubleiben und kleine Fortschritte zu würdigen – Heilung ist ein Prozess, kein Sprint.
Was hat ein dysreguliertes Nervensystem mit ADHS zu tun?
ADHS wird oft als reine „Konzentrationsstörung“ gesehen, doch dahinter steckt häufig ein Nervensystem, das ständig zwischen Übererregung und Erschöpfung pendelt. Viele Betroffene sind schnell reizüberflutet, innerlich unruhig oder getrieben – typische Zeichen einer Dysregulation. Ein reguliertes Nervensystem hilft, den Fokus besser zu halten und Impulse leichter zu steuern.
Was hat ein dysreguliertes Nervensystem mit Angst, Angststörung und Anxiety zu tun?
Angst ist eine natürliche Reaktion auf Gefahr. Wenn das Nervensystem aber dauerhaft in Alarmbereitschaft steckt, erleben wir ständige innere Unruhe, Panikattacken oder das Gefühl, dass alles bedrohlich ist, auch wenn es objektiv sicher ist. Anxiety ist im Grunde die Sprache eines Nervensystems, das nie richtig „runterfährt“ und immer mit Gefahr rechnet.
Was hat ein dysreguliertes Nervensystem mit Depression zu tun?
Depression fühlt sich oft an wie eine innere Taubheit oder Schwere. Dahinter steckt häufig das Nervensystem im „Shut-Down“-Modus: Der Körper hat gelernt, Gefühle zu unterdrücken, um nicht überwältigt zu werden. Statt Übererregung herrscht dann Erstarrung. Viele Menschen wechseln sogar zwischen beiden Zuständen – von ständiger Unruhe (Anxiety) in totale Erschöpfung (Depression).
Was hat ein dysreguliertes Nervensystem mit Autismus zu tun?
Menschen im Autismus-Spektrum haben ein Nervensystem, das Reize sehr intensiv wahrnimmt. Geräusche, Licht oder soziale Situationen können schnell zu Überlastung führen. Auch wenn Autismus keine Folge von Trauma ist, erleben viele Betroffene sekundäre Traumata, weil sie sich ständig anpassen mussten. Das Nervensystem kann dadurch zusätzlich dysreguliert sein.
Was hat ein dysreguliertes Nervensystem mit Borderline-Persönlichkeitsstörung zu tun?
Bei einer Borderline-Persönlichkeitsstörung steckt fast immer ein stark dysreguliertes Nervensystem dahinter. Viele Betroffene haben früh in ihrem Leben – meist durch Entwicklungstrauma – gelernt, dass Nähe unsicher ist. Das Nervensystem reagiert dann extrem: Einerseits ist da ein starkes Bedürfnis nach Verbindung, andererseits die Angst vor Verletzung oder Verlust. Schon kleine Konflikte oder Spannungen können wie eine Bedrohung wirken und das Nervensystem in Alarmbereitschaft versetzen. Das führt zu intensiven Gefühlen, plötzlichen Wutausbrüchen, tiefer Verzweiflung oder dem Gefühl, völlig leer zu sein. Diese scheinbaren „extremen Reaktionen“ sind in Wahrheit der Ausdruck eines Nervensystems, das keine stabile Mitte findet und permanent zwischen Übererregung (Angst, Wut, Panik) und Abschalten (Taubheit, Leere, Depression) pendelt.
Was hat ein dysreguliertes Nervensystem mit Essstörungen zu tun?
Essen wird oft als Versuch genutzt, das Nervensystem zu regulieren. Überessen betäubt und beruhigt, Hungern gibt Kontrolle oder ein Gefühl von Leere, das paradoxerweise sicher wirkt. Hinter vielen Essstörungen steckt ein Nervensystem, das keine andere Strategie kennt, um mit innerer Spannung umzugehen.
Was hat ein dysreguliertes Nervensystem mit Alkohol oder Drogenmissbrauch zu tun?
Alkohol und Drogen sind schnelle, aber ungesunde Wege, um das Nervensystem kurzfristig zu beruhigen oder taub zu machen. Viele Menschen greifen dazu, wenn sie keine anderen Tools haben, um innere Unruhe, Schmerz oder Leere zu regulieren. Auf Dauer verstärkt es jedoch die Dysregulation, weil der Körper immer mehr aus dem Gleichgewicht gerät.
Was hat ein dysreguliertes Nervensystem mit Hochsensibilität zu tun?
Hochsensible Menschen nehmen Reize viel intensiver wahr – Geräusche, Stimmungen, Stress. Das Nervensystem ist dadurch schneller überlastet und kippt leichter in Dysregulation.
Warum ist Bewegung bei einem dysregulierten Nervensystem so wichtig?
Trauma und Stress bleiben oft als „eingefrorene Energie“ im Körper stecken. Bewusste Bewegung – egal ob Spazierengehen, Tanzen, Yoga oder Sport – hilft, diese Energie zu entladen und den Körper wieder in Fluss zu bringen. Selbst kleine, langsame Bewegungen können das Nervensystem daran erinnern, dass wir lebendig und sicher sind.
Warum ist Ernährung bei einem dysregulierten Nervensystem so wichtig?
Weil unser Darm über den Vagusnerv direkt mit dem Gehirn verbunden ist. Gerät der Darm oder das Mikrobiom aus dem Gleichgewicht, kommt auch das Nervensystem leichter in Stress. Zucker, Koffein oder Alkohol reizen den Körper zusätzlich und halten uns in Alarmbereitschaft. Regelmäßige Mahlzeiten mit Proteinen, gesunden Fetten, Ballaststoffen und Mineralstoffen wie Magnesium stabilisieren Blutzucker und Darm – und damit auch den Vagusnerv. So entsteht die Grundlage, dass unser Nervensystem wieder in die Ruhe findet.
Welche professionelle Hilfe oder Therapien sind bei einem dysregulierten Nervensystem die richtigen?
Gesprächstherapie allein reicht oft nicht, weil Trauma im Körper gespeichert ist. Methoden wie Somatic Experiencing (Peter Levine), EMDR, körperorientierte Traumatherapie, TRE (Trauma Releasing Exercises) oder Neurofeedback setzen direkt beim Nervensystem an. Auch Polyvagal-Übungen oder achtsamkeitsbasierte Körperarbeit helfen, das Nervensystem Schritt für Schritt zu regulieren.
Warum fühlen sich Menschen mit Trauma im Stress „lebendig“ und produktiv?
Weil ihr Nervensystem an Dauerstress gewöhnt ist. Hohe Anspannung bedeutet für den Körper: „Ich funktioniere, ich bin sicher.“ Ruhe dagegen löst Unsicherheit aus, weil sie ungewohnt ist. Stress wird so zum „Normalzustand“, in dem wir uns scheinbar leistungsfähig fühlen – obwohl wir uns langfristig ausbrennen.
Warum fühlt sich Ruhe unangenehm an?
Für ein dysreguliertes Nervensystem kann Ruhe bedrohlich wirken. Plötzlich tauchen Gefühle oder Körperempfindungen auf, die wir lange verdrängt haben. Anstatt Entspannung empfinden viele Menschen Unruhe, Angst oder Leere, wenn sie still werden. Das Nervensystem muss erst wieder lernen, dass Ruhe sicher ist.
Wie zeigt es sich, wenn jemand unbewusst im Survival Mode ist?
Menschen im Survival Mode sind oft ständig beschäftigt, können schlecht abschalten und haben Schwierigkeiten, wirklich im Moment zu sein. Sie sind entweder dauerhaft angespannt, gereizt und getrieben – oder sie fühlen sich leer, müde und abgetrennt. Oft ist es ein Wechsel aus beidem.
Warum merken viele Menschen nicht, dass sie im Survival Mode sind?
Weil es sich für sie „normal“ anfühlt. Wenn wir schon als Kinder gelernt haben, im Alarmzustand zu leben, kennt unser Körper gar nichts anderes. Wir halten Stress, Erschöpfung oder Taubheit für unsere Persönlichkeit – dabei ist es nur der überlastete Zustand unseres Nervensystems.
Was ist eine dorsale Vagus-Aktivierung?
Der Vagusnerv hat zwei Hauptäste. Wird der dorsale Vagus überaktiviert, schaltet der Körper in Erstarrung: wir fühlen uns taub, erschöpft, abgetrennt oder wie eingefroren. Das ist eine Schutzreaktion, wenn weder Kampf noch Flucht möglich ist. Manchmal zeigt sich das als Dissoziation, Depression oder extreme Müdigkeit.
Wie zeigt sich Dissoziation vom Körper?
Dissoziation bedeutet, dass wir uns innerlich vom Körper abtrennen. Das kann sich anfühlen, als wären wir „neben uns“, taub oder wie betäubt. Manche spüren keinen Hunger oder keine Schmerzen mehr richtig, andere erleben das Leben wie durch eine Glasscheibe. Es ist eine Schutzstrategie des Nervensystems, wenn Gefühle oder Erinnerungen zu überwältigend wären.
Wie kann man als Frau wieder lernen, sich mit dem Körper zu verbinden?
Viele Frauen wurden früh darauf konditioniert, ihren Körper zu kontrollieren oder zu unterdrücken – durch Schönheitsideale, Leistungsdruck oder das Abtrainieren von Gefühlen. Wieder Verbindung aufzubauen heißt: den Körper zu spüren, ohne ihn zu bewerten. Das kann sanfte Bewegung sein, Tanz, Yoga, Selbstberührung, bewusste Atmung oder Rituale im Alltag wie bewusstes Einseifen unter der Dusche. Es geht darum, sich selbst die Erlaubnis zu geben: „Mein Körper ist sicher. Ich darf ihn fühlen.“
Warum fühlt man sich müde, wenn man mit Trauma- & Nervensystem-Heilung beginnt?
Weil das System zum ersten Mal loslässt. Viele von uns haben Jahrzehnte im Überlebensmodus gelebt, in Anspannung, Adrenalin und Dauerstress. Wenn das Nervensystem endlich Entspannung zulässt, reagiert der Körper mit Erschöpfung. Müdigkeit ist oft ein Zeichen, dass Heilung passiert und der Körper beginnt, sich zu regenerieren.
Was kannst du tun, wenn du ständig müde bist?
Sanft mit dir umgehen. Dein Körper braucht wahrscheinlich genau diese Ruhe, um aufzuholen. Ausreichend Schlaf, Nährstoffe, Bewegung an der frischen Luft und Sonnenlicht helfen. Aber vor allem: Akzeptiere, dass Müdigkeit kein Rückschritt ist, sondern ein Teil der Heilung. Achte darauf, dich nicht zu überfordern – weniger „tun“, mehr „sein“.
Wie lange dauert diese Erschöpfungsphase?
Das ist individuell. Manche spüren nur einige Wochen mehr Müdigkeit, andere Monate oder sogar Jahre (phasenweise). Es hängt davon ab, wie lange dein Nervensystem im Überlebensmodus war. Wichtig ist: mit Geduld und liebevoller Selbstfürsorge baut der Körper langsam neue Energie auf. Es ist ein Prozess, kein Sprint.
Was ist eine maladaptive Stressreaktion?
Eine maladaptive Stressreaktion bedeutet, dass unser Nervensystem auf eigentlich harmlose Situationen reagiert, als wären sie gefährlich. Das ist wie ein Rauchmelder, der ständig Alarm schlägt, auch wenn gar kein Feuer da ist.
Wie zeigt sich eine maladaptive Stressreaktion?
Sie zeigt sich in übertriebenen oder unpassenden Reaktionen: Herzrasen bei einer E-Mail vom Chef, Panik vor sozialen Situationen, extreme Wut in kleinen Konflikten oder völlige Taubheit, wenn Nähe entsteht. Der Körper reagiert, als wäre er bedroht – obwohl objektiv keine Gefahr besteht.
Warum ist eine maladaptive Stressreaktion so schwer zu erkennen?
Weil sie sich für uns „normal“ anfühlt. Wenn wir unser ganzes Leben in Alarmbereitschaft verbracht haben, merken wir gar nicht, dass wir überreagieren. Wir glauben, „so bin ich eben“, dabei ist es unser Nervensystem, das falsch kalibriert ist.
Wie kann man eine maladaptive Stressreaktion umprogrammieren?
Durch neue Erfahrungen in Sicherheit. Das heißt: in kleinen Schritten lernen, dass Situationen, die früher Stress ausgelöst haben, heute ungefährlich sind. Mit Geduld kann der Körper lernen: „Ich bin jetzt sicher. Ich muss nicht mehr überreagieren.“







